Donnerstag, 23. Juni 2005

"Modernisierungsversuch" des Heidegger-Zitats

Gedanken zur Vorlesung „Geschichte der Philosophie“ von Wolfgang Schmid vom 21.6.

"Sprache ist das Haus des Seins"

(„Wohnst du noch – oder lebst du schon?“)

Wohnst du in einer Mietwohnung?
In einem Fertighaus dank Eigenheimzulage?
In einer mit Efeu bewachsenen Villa mit vielen Ecken und Zimmern?
In einem Schloss mit Erkern und schönem Ausblick?
In einer Eigentumswohnung, die subventioniert wurde?
In einer Jurte oder einem Bauwagen, auf verschiedenen Wiesen?


Ob das Sein in einer Mietwohnung lebt, erkennt man daran, dass man sich Wörter nur borgt. Sie sind nicht verbindlich und dauerhaft gültig. Das Wortrepertoire ist im besten Falle renoviert, aber nicht neu und originell. Es sind übernommene Sätze, die man irgendwann weitergibt. Im schlimmsten Fall übernimmt man auch die Einrichtung des Vormieters samt Vorhängen. Eine Mietwohnung ist auf eine bestimmte Zeit beschränkt. Es gibt keine Absicherungen gegen zwangsweise Modernisierungsmaßnahmen des Vermieters; wenn man sich nicht benimmt, kann einem auch fristlos gekündigt werden. Der Vorteil einer Mietwohnung ist natürlich die gegebene Freiheit. Man kann wieder ausziehen, wenn es einem zu langweilig geworden ist. Je nach Mietspiegel und Portemonnaie richtet man sich dann wieder woanders ein.




Die Sprache als Fertighaus sieht auf den ersten Blick sehr ordentlich aus. Es sind hier zwei Varianten zu unterscheiden: Die günstige, bei der nur in die nötigsten Materialien investiert wird und die teure Version inklusive Solar- und Wasserwiederaufbereitungsanlage. Der Besitzer dieses Hauses kennt seine Wörter und ist sich im Klaren darüber, welche er wählt. Wie aus einem Katalog sucht er sich die Sprach- und Denkbausteine zusammen. Seine Sätze passen zueinander, jedoch ist der Rahmen streng kalkuliert. Da Fertighäuser meist in dicht besiedelten Gegenden gebaut werden, ist der Abstand zu den Nachbarn gering und der Freiraum eingeengt. In bestimmten Gegenden ist es auch ungeschriebenes Gesetz, dass der Vorgarten entsprechend gepflegt sein muss. Das bedeutet, es wird viel wortreicher Aufwand getrieben, damit der erste Eindruck ein guter ist. Dahinter kann es dann schon karger aussehen, die Gespräche sind eintönig, da es auch schon große Anstrengung wegen der Sparsamkeit gekostet hat, sich ein solches Haus bestellen zu können.


(Stoll-bau.de)


Wohnt das Sein in einer efeubewachsenen alten Villa, so gibt es in der Sprache immer wieder Neues zu entdecken. Die Wörter sind alt und wissen, wo sie hingehören – dadurch entsteht die nötige Ruhe, sich auf Forschungsreisen zu begeben, wenn die Neugier erhalten wurde. Die Tür dieses Hauses steht meistens offen, und Besucher sind immer willkommen, sofern sie sich angemessen anständig verhalten. In diesem Gebäude werden viele gute Gespräche geführt und hier hat so mancher schon einen neuen Gedanken für sich entdeckt. Es wird sehr viel Wert auf die Seinspflege gelegt. Bestechend ist natürlich das rote Zimmer mit der großen Bibliothek! Verbotene Gedanken gibt es eigentlich nicht, außer die Sprache wird zu oberflächlich, dann wird der Hausherr doch etwas unruhig.


(Schlösser und Herrenhäuser in S-H, HB-Bildband, auch das nächste)


Das Schloss als Herberge des Seins besticht natürlich durch seine Größe. Es ist riesig. Die Wortgebilde ragen soweit in die Wolken hinein, dass man bei zu langem Hochschauen einen steifen Nacken bekommen kann. Aber ist man erst mal drinnen, dann kann man nur die langen Flure und weiten Räume genießen. Die Sprache scheint grenzenlos und sie geht nicht, nein, sie schreitet oder lustwandelt. Es gibt Wörter für alles; es gibt dort auch Räume für bestimmte Zwecke, von denen man vorher noch nie etwas gehört hat. Wenn man spricht, dann hallt es nach und wer dem nicht gewachsen ist, fühlt sich schnell allein. Derjenige aber, der immer wieder Neues entdecken will, ist in dem Schloss genau richtig. Er wird Türen entdecken, die zuvor noch niemand geöffnet hat. Leider kann man Schlösser meistens nur erben. Ein Nachteil sind jedoch die hohen Decken und dadurch bedingte schlechte Heizbarkeit, weshalb sich schon so mancher Langzeitbesucher eine Rheumaerkrankung zugezogen hat. Richtig warm und gemütlich wird es dort in einer kalten Zeit nicht.


Wohnt das Sein in einer Eigentumswohnung, dann wird es das, aller Voraussicht nach, auch bis an sein Lebensende tun. Außer: der Besitzer bekommt noch einen Rappel und vermietet, um sich in die Welt aufzumachen. Anders als bei einer Mietwohnung wird hier viel mehr in die Substanz investiert. Diese Sprache ist auf Sicherheit bedacht, jeder Fehler kann fatale Folgen haben. Der Besitzer ist sich sehr wohl im Klaren darüber, dass die Wörter sein Eigentum sind und so redet er dann auch. Alles hat seine Ordnung und Beständigkeit; der Eigentumswohnungsbesitzer ist sehr dahinter her, dass die Kehrwoche eingehalten wird. Es gilt die Regel: das ist mein Wort und das ist dein Wort. Neues ist nur in Maßen willkommen und Fremde müssen erst mal zeigen, dass sie es wert sind, in ein Gespräch über Versicherungen eingebunden zu werden.
(Bild:Immobilien-scout.de)


Wohnt das Sein in einer Jurte oder einem Bauwagen, dann muss es nicht ausziehen, wenn es mal den Schauplatz wechseln möchte. Dieses Sein ist auf Wanderschaft und trotzdem lässt es sich nicht durch neue Umgebungen verwirren und verunsichern, da es seinen wohnlichen Kern immer bei sich behält. Es spricht frei aus sich heraus, kennt keine Grenzen und Verbindlichkeiten. Die Wörter tanzen abends um ein Lagerfeuer herum und feilschen auf dem Markt hartnäckig die Preise herunter. Hier werden die wirklich aufregenden Geschichten erzählt, natürlich einem wechselndem Publikum. Da hier die freien Ideen geboren werden, wirkt der Bauwagen sehr anziehend auf die Besucher. Traurig ist es nur für die, die eines Tages zu einem verlassenen Platz kommen. jurte

(P.H.-U.)

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raajin - 24. Jun, 16:32

;) natürlich enstpricht die interpretation selten der wirklichkeit

rahelrath - 24. Jun, 16:59

Ich glaube, dass noch nicht einmal

die Wirklichkeit der Wirklichkeit entspricht :)
tobi-tobsucht - 24. Jun, 17:12

das wär' ja auch noch schöner ..rahel....;)
raajin - 29. Jun, 09:39

wer von einer absoluten realität ausgeht, muß sich solche hirnverknotenden fragen nicht stellen ....
wobei "absolute realität" alle paradoxa miteinschließt
rahelrath - 26. Jun, 12:32


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rahelrath - 13. Nov, 22:09
schön
dieses Bild......
wfschmid - 13. Nov, 18:09
und mit soviel begeisterung:)
und mit soviel begeisterung:)
Imke-Hinrichsen - 11. Nov, 20:32
:-) Er macht das doch...
:-) Er macht das doch echt gut, irgendwie ist er so...
rahelrath - 11. Nov, 15:59

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