Samstag, 26. März 2005

Neurowissenschaft meets Lyrik

Der Mensch erlebt das jetzige Jetzt
Nur einen Dreisekundenaugenblick
Der nächste Ereignisinhalt hetzt
Den alten fort, ganz ohne Trick!


Ernst Pöppel beschreibt in „Grenzen des Bewusstseins“ auf sehr anschauliche Weise, wie „Natur“ sich in Gedichten zeigt bzw. zeigen kann.
Der Mensch ist in der Lage, einen Bewusstseinsinhalt maximal drei Sekunden zu „halten“. Danach wird dieser wieder von einem anderen abgelöst. Diese maximale Zeitspanne ist durch die neurophysiologischen Bedingungen nicht zu überschreiten. Ein Bewusstseinsinhalt ist das, was aus mehreren Ereignissen zu einer Einheit integriert wird. Diese eine Gestalt erleben Menschen bewusst und damit erleben sie auch das „Jetzt“. Bewusstsein ist immer ein Bewusstsein „von etwas“. (Der Mensch ist in der Lage, sich auch das Bewusstsein oder auch das „Jetzt“ selbst zum Gegenstand seines Bewusstseins zu machen.)
Der zeitliche Rahmen ist durch das formale Gegenwartsfenster vorgegeben, dieses ist nur drei Sekunden für diesen Inhalt geöffnet; danach wechselt der Aspekt.

„Nun gibt es einen Bereich, der nach Auffassung des Autors in wohl überzeugendster Weise demonstriert, dass unsere Sprache eingebettet ist in ein zeitliches Grundmuster von etwa drei Sekunden, da sie seiner Dauer der subjektiven Gegenwart, dem Jetzt entspricht – und das ist die Dichtkunst. Ermutigt, Beobachtungen aus der Dichtkunst für seine Argumente heranzuziehen, fühlt sich der Autor durch die Bemerkung Ernst Jüngers: ‚Das Gedicht gehört zum Wesen des Menschen, nicht zum Gepäck.’ [...]
Wem nie durch Liebe Leid geschah,
dem ward auch Lieb’ durch Lieb’ nicht nah;
Leid kommt wohl ohne Lieb allein,
Lieb’ kann nicht ohne Leiden sein.

(Gottfried von Straßburg)“
Ernst Pöppel: Grenzen des Bewusstseins Wie kommen wir zur Zeit, und wie entsteht Wirklichkeit? Frankfurt a.M. 2000, S. 85

Pöppel hat mehrere Gedichtsverse, auch in anderen Sprachen, empirisch auf dieses Drei- Sekundengrundmuster hin untersucht und festgestellt, dass i.d.R. dieses, zumindest beim Vortragen, nicht überschritten wird. (Das Vortragen einer Zeile dauert ca. drei Sekunden.)
Er vermutet für dieses universelle Phänomen einen ökonomischen Grund: Da der Mensch nicht in der Lage ist, über einen Zeitraum von drei Sekunden hinaus, Ereignisse zu einem Bewusstseinsinhalt zu vereinen, wird die Kommunikation wesentlich erleichtert und vereinfacht, wenn das Mitgeteilte sich auch in diesem zeitlichen Rahmen ‚befindet’. Des Weiteren wurde herausgefunden, dass nicht nur die Sprache des Gedichts diesem „Bewusstseinstempo“ angepasst ist, sondern auch die ganz normale Sprechsprache. Dies ist ein (weiteres) wichtiges Gegenargument dafür, dass in Veranstaltungen „abgelesen“ wird, da die Lesegeschwindigkeit das „Bewusstseinstempo“ in den meisten Fällen überschreitet.

„... Bestimmte Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Zeitwahrnehmung wirken sich auf den dichterischen Schöpfungsakt aus. [... und] mit dem dichterischen Vers haben die Dichter eine Gestalt erfunden, die der formalen Struktur unseres Zeiterlebens am besten entspricht.“ Pöppel, 88
Das „Gegenwartsdichten“ ist ein Phänomen, bei dem sich das „Natürliche“ durch die Sprache zeigt. Das Dichten wird der formalen Bedingung, die durch die neurophysiologische Beschaffenheit unseres Gehirns gegeben ist, am effektivsten gerecht – für den Sprecher als auch für den Hörer. Wie sieht dies nun in Fließtexten aus? Kann man auch hier Analoges entdecken, einen bestimmten Rhythmus, der vom Gehirn vorgegeben wird? Würde man hier einen bestimmten Rhythmus entdecken, dann könnte man rückschließend auch etwas mehr über die „Melodie des Gehirns“ aussagen können.

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